Führung quo vadis II
Wer kann in eine gute Zukunft führen?
Sie wünschen sich (schon lange) selbstverantwortlich arbeitende und mitdenkende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie Führungskräfte, die sich eine andere Art von Führung vorstellen können und Verantwortung anders definieren und leben wollen?
Dann fragen Sie sich zunächst, welche Art von Führungsverständnis in ihrem Unternehmen gelebt wird und ob dieses, ihre obige Sehnsucht überhaupt erfüllen kann. Wenn ja, dann geht der nächste Blick auf die Menschen, die führen und geführt werden. Auf welcher Ich-Entwicklungsstufe befinden sich die handelnden Personen?
Es gibt einen Bericht von einem amerikanischen Unternehmen, das radikal auf agiles Arbeiten umgestellt hat und ca. 20% der MitarbeiterInnen und Führungskräfte verloren hat. Auch TeleHase, ein österreichisches Unternehmen, das diesen Weg gegangen ist, berichtet davon, dass sie eine Menge an MitarbeiterInnen verloren haben, die diese Arbeitsform nicht wollen.
Warum ist das so? Antworten darauf gibt das Ich-Entwicklungskonzept das von Jane Loevinger, Robert Keagan, Susan Cook-Greuter und im deutsch sprachigen Raum von Thomas Binder, entwickelt und erforscht wurde. Das Konzept zeigt, wie sich die Ich Struktur eines Menschen, also seine persönliche Reife, weiterentwickeln kann – aber nicht zwingend muss. Das Konzept ist in 10 Entwicklungsstufen von E1-E10 eingeteilt, wobei die Stufenbezeichnungen bei den oben genannten Forschern variiert.
Unter Ich-Entwicklung versteht man jene Art und Weise, wie eine Person sich selbst und die Welt wahrnimmt und interpretiert. Bis zum Alter von circa 25 Jahren entwickelt sich der Mensch in Gleichklang mit seinem Alter, danach findet eine Weiter-Entwicklung des Ichs nicht mehr zwingend statt. Diese Weiter-Entwicklung ist ein Prozess, der zwischen dem Fokus von Ich und der Welt pendelt und immer komplexere und reflektiertere Wahrnehmung ermöglicht. Diese Entwicklung lässt sich nicht machen oder trainieren, sondern braucht einen entsprechenden Nährboden.
Immer mehr bildet sich ein stabiles Ich heraus, das die Welt differenzierter wahrnimmt und Paradoxien aushält und integrieren kann. Die Statistik zeigt, dass erwachsene Menschen ab Stufe 3 in den Arbeitsprozess integrierbar sind. Ebenso werden die letzten beiden Stufen nur sehr selten erreicht. Die Menschen auf diesen Stufen sind meist sehr einsam, weil ihnen der Austausch in einer Community fehlt. Glaubt man der Statistik (es gibt viele Forschungen zu diesem Konzept), dann befindet sich die Mehrheit der Bevölkerung in unserem Kulturkreis mit zirka 38% auf der Stufe E5, 30% auf der Stufe E6 und auf den Stufen E7 sind es nur mehr 10%. Auf Stufe E4, sind nur circa 12% zu finden.
Man spricht bei den Stufen bis E7 von konventionell und ab Stufe E7 von post-konventionell. Gemäß der Aussage von Martin Buber „der Mensch wird am Du zum Ich“, pendelt der Mensch in immer reiferer Form zwischen den Polen von ICH und WIR. Wir sind am Anfang unseres Lebens symbiotisch mit der Mutter verbunden und haben keine Ich-Struktur – die ersten Versuche unsere Individualität zu entwickeln, machen wir in der Trotzphase und später in der Pubertät.
Die Stufen, die nun erwachsene Menschen machen können, sind die folgenden:
E3 wird als „selbst orientierte“ Stufe bezeichnet, dabei ist der Mensch fast ausschließlich auf seinen eigenen Vorteil bedacht und andere werden nur als Mittel zum Zweck herangezogen. Der Zeithorizont in dem Denken und Handeln stattfindet ist ein sehr kurzer und der Fokus liegt auf materiellen und konkreten Dingen. Feedback wird auf dieser Stufe nicht angenommen, schuld sind immer die anderen.
Die Welt wird in Freund, das ist jemand die eigene Meinung teilt und unterstützt und Feind, jemand der anderer Meinung ist, eingeteilt.
Als Beispiel wird in einigen Artikeln Donald Trump genannt. Ein E3 sollte aber weder führen, noch ein Land regieren, weil verantwortungsvolle Entscheidungen, die viele Kontexte und Perspektiven mit einschließen auf dieser Stufe nicht getroffen werden können.
E4 wird als „gemeinschaftsbestimmte“ Stufe bezeichnet. Das Pendel schlägt in die Richtung Wir / Gruppe / Community aus. Menschen, die sich auf dieser Stufe befinden, orientieren sich an den Vorgaben, Regeln und Normen ihre Bezugsgruppe(n). Sie sind noch nicht in der Lage sich von der Bezugsgruppe zu unterscheiden, eigene, von denen der Bezugsgruppe abweichende, Gedanken kommen fast nicht vor oder erzeugen ein schlechtes Gewissen. Gibt es sie trotzdem, dann werden nicht geäußert, weil sonst der Verlust der Zugehörigkeit zur Bezugsgruppe befürchtet wird.
Menschen auf dieser Stufe können keinen eigenen Standpunkt beziehen, weil sie sich dem Gruppendruck unterordnen. Von der Gruppe abweichende Gedanken lösen meistens Schuldgefühle aus.
In Unternehmen kann man das manchmal folgendermaßen beobachten: Sie sprechen mit einem Kollegen, der sich ganz ihrer Meinung anschließt, aber im Teammeeting sagt er kein Wort und schließt sich dem Leader oder der Gruppenmeinung an. Vielleicht denken Sie dann „falscher Hund“ – wie das ein Coachee von mir einmal genannt hat – aber das kommt mehr daher, weil sich jemand auf Stufe E4 der Meinung der Bezugsgruppe unterordnet als von einem „schlechten“ Charakter oder bösartiger Absicht. Er hat noch keine eigene Identität entwickelt.
E5 wird die „rationalistische“ Stufe genannt. Auf dieser Stufe beginnt der Mensch sich selbst wahrzunehmen und kann sich aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten – die Fähigkeit zur Selbstkritik entsteht. Auf dieser Stufe wird Effizienz statt Effektivität betont, gedacht wird in Ursache-Wirkung, was manchmal, wenn man es aus einer höheren Stufe aus betrachtet, irrational erscheint.
Menschen auf dieser Stufe haben eine klare Vorstellung darüber, was richtig und was falsch ist. Graustufen wirken bedrohlich oder können gar nicht gedacht werden.
Sie hören hier oft die Aussagen: „das einzig Richtige in dieser Situation ist“ oder „diese Aktion war komplett falsch!“ Auf die Frage „Was könnte der andere anders gesehen haben?“ erntet man meist Unverständnis.
Oft findet man hier die berühmten „Rechthaber“, die Meetings und Teamwork erheblich erschweren können.
In einem unserer Teamtrainings hatten Teilteams die schwierige Aufgabe eine Reihung zu diskutieren und festzulegen – diese wurde dann mit dem Resultat der anderen Teams und der „richtigen“ Antwort verglichen. In einem Team befand sich ein Teamleiter, den man auf Stufe E5 verorten könnte. Er war davon überzeugt, dass er DIE richtige Lösung hatte und aufgrund seines bestimmten Auftretens und der höheren Position, kam es in diesem Teilteam zu keiner gegenseitig befruchtenden Diskussion – das Ergebnis, das diese Gruppe abgab, war komplett falsch – mehrere Teammitglieder hatten zwar viel bessere Lösungen, aber beugten sich – ohne sich einzubringen – der Meinung des hierarchisch höheren.
Eine nicht sehr fruchtbare Kombination von E4+E5 – vielleicht kennen Sie das in der Realität auch.
E6 wird „eigenbestimmte“ Stufe genannt – ab dieser Stufe haben die Menschen eine Ich-Struktur entwickelt und definieren ihre Werte, Vorstellungen und Ziele selbstbestimmt. Sie sind in der Lage, Situationen auch komplexerer Art, wahrzunehmen und in unterschiedliche Kontexte zu setzen sowie verschiedene Perspektiven einzunehmen. Auf dieser Stufe gelingt es, die anderen individueller wahrzunehmen, kritisches Feedback ist annehmbar, wenn auch noch vorsichtig und mit wenig Begeisterung. Da die Ich-Struktur noch gefestigt werden muss, wird das Gemeinsame hier noch als bedrohlich wahrgenommen.
Erfolgsberichte von Führungskräften auf dieser Stufe sind meist nach dem Motto: „ich kam, sah und gestaltete“ aufgebaut. Konkurrenz wird gespürt und als bedrohlich erlebt. Der „Macher“ ist einer Vertreter, der meist auf Stufe E6 verortet wird, Leistung ist im Fokus.
E7 die „relativierende“ Stufe – ab hier beginnt ein stärkeres Hinterfragen der eigenen Sichtweisen und der von den Mitmenschen. Die Unterschiedlichkeit von Sichtweisen ist nicht mehr bedrohlich, sondern wird als bereichernd gesehen.
Den Menschen auf dieser Stufe ist bewusst, dass es durch die Unterschiedlichkeit der Sichtweisen zu inneren und äußeren Konflikten kommen kann. Man sieht die vorhandenen Paradoxien und kann mit diesen auch umgehen.
Da bestehende Normen, Regeln und Rollen hinterfragt werden, beginnen hier die postkonventionellen Stufen.
E8 wird als „systemische Stufe“ bezeichnet.
Ab hier gibt es ein Miteinander von Individualität und Gemeinschaft – das entweder / oder löst sich auf dieser Stufe auf.
Weil Menschen ab E8 in der Lage sind viele Perspektiven fast gleichzeitig zu betrachten, können auch die systemischen Wechselwirkungen besser wahrgenommen werden.
Feedback ist willkommen, kann integriert werden, weil die eigenen inneren, auch negativen, Anteile angenommen werden. Persönliche Weiterentwicklung ist den Menschen auf dieser Stufe wichtig. Sie gehen offen und kreativ mit Konflikten um.
Für Führungskräfte, die Entscheidungen treffen müssen, um vorgegebene Ziele zu erreichen, ist es auf dieser Stufe gar nicht mehr so einfach. Sie sehen viele und auch widersprechende Aspekte und Meinungen, die sie gut integrieren können und respektieren die Autonomie anderer Menschen. Manchmal müssen sie aber auf die Fähigkeiten der Stufe 6 zurückgreifen, um in Firmenkontexten „passend“ agieren zu können.
Die Menschen auf den Stufen E7 und höher werden jene sein, die uns in der Entwicklung weiterbringen – allerdings ist die Frage wohin wird dann die Reise gehen, wenn wesentlich mehr Menschen in der Berufswelt auf diesen Stufen sind?
Die Stufen E9 und E10 zeigen zurzeit Handlungslogiken auf, über die so ca 1% der Menschen in unserem Kulturkreis verfügen.
Was bedeuten diese Stufen nun in Bezug auf Führung? Lt. Thomas Binder befinden sich die meisten Führungskräfte auf den Stufen E5 und E6. In Organisationen, die sich in der differenzierten Phase befinden, genügt das auch. Es geht ja meist um Leistung und Effizienz(-steigerung) und um Handeln, Aktionen planen und setzen. Allerdings zeigen Untersuchungen, dass Führungskräfte auf der Stufe E7 bessere Entscheidungen treffen, da sie in der Lage sind, mehrere Aspekte einer Problemstellung zu berücksichtigen und dadurch auch die dahinterliegenden Ursachen miteinbeziehen.
Die Frage ist, ob diese Entwicklungsstufen ausreichen, um den heutigen Anforderungen an Geschwindigkeit und Komplexität gerecht zu werden.
Schauen wir jetzt auf agile Organisationsformen, die ja entstanden sind, um in dieser VUCA – (V(volatil)U(unsicher)K(komplex)A(ambivalent) Welt gut navigieren zu können, so ist es unumgänglich, dass dort Führungskräfte arbeiten, die sich mindestens auf Stufe E7 oder E8 befinden.
Nur diese sind in der Lage in einer Arbeitsform zu arbeiten, in der jede/r volle Verantwortung für die im Moment eingenommene Rolle übernimmt. Sie halten es aus, dass sich Rollen immer wieder ändern.
Wenn sich nun eine differenzierte Organisation (oder Teile davon) in eine agile Organisationform verwandeln möchte, dann müssen sich die handelnden Führungskräfte und jene, die diese Entwicklung beauftragen mindestens auf Stufe E7 oder E8 befinden.
Wie einige Beispiele von Firmen, die sich von differenziert nach agil entwickelt haben zeigen, ist diese Organisationsform nicht für alle Menschen geeignet. Diese Firmen haben, wie schon oben erwähnt, zwischen 15% und 20% ihrer MitarbeiterInnen verloren, weil diese lieber in einer Umgebung mit klaren Regeln, Normen und Anweisungen arbeiten wollten.
Unternehmer stellen mir im Coaching öfters die Frage, ob Start-Ups gleich als agile Organisation gegründet werden können oder ob sie die vorhergehenden Entwicklungsstufen (siehe mein Artikel: Führung quo vadis? – Welche Form von Führung ermöglicht Ihr Unternehmen?) alle durchleben müssen.
Das kommt auf die Entwicklungsstufe der Gründer darauf an. Wenn diese „agil“ denken können, sich also auf Stufe E7 oder höher befinden, dann ist dies durchaus möglich. Es gibt Beispiele von Unternehmen, die gleich als „agile“ Organisation gestartet sind wie z.B. die Systelios Klink von Dr. Gunther Schmidt. (*)[1]
Wenn Sie also immer wieder Führungskräfte einstellen müssen oder Entwicklungsprogramme für Führungskräfte initiieren und nur mit selbstverantwortlich denkenden und handelnden MitarbeiterInnen zusammen arbeiten wollen, dann sollten Sie sich mit dem Ich-Entwicklungsmodell beschäftigen.
Leider lässt es sich nicht so einfach feststellen, auf welcher Entwicklungsstufe sich ein Mensch befindet. Übliche Tests, die über Handlungsvorlieben oder Fähigkeiten und Potentiale Auskunft geben, reichen hier nicht aus.
Es ist spannend, wie die Ich-Entwicklungsstufe festgestellt wird – dazu gibt es Satzergänzungstests und anhand der Antworten, die noch „händisch“ ausgewertet werden, ergibt sich dann die Zuordnung.
Beispiele für Satzanfänge sind: „Ein guter Vorgesetzter ….“ Oder „Frauen sind die besseren …“.
Wir Menschen befinden uns nicht ausschließlich auf einer Stufe, sondern die Satzergänzungen zeigen meist mehrere Stufen auf. Die höchste Stufe, die man auch in schwierigen Situationen immer „parat“ hat, ist die, der man dann „zugeordnet“ wird und deren Handlungslogik man meist anwendet.
Klicken Sie auf diesen Link, dort erhalten Sie Links und Tipps für weiterführende Literatur zum Thema Ich-Entwicklung.
[1] Hier ist der Link zu einem Bericht, in dem Unternehmer über ihre agilen Unternehmen berichten: https://augenhoehe-film.de/